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Roxin/Schünemann - Strafverfahrensrecht - 30. Auflage 2022

C.H. Beck 978-3-406-63587-5
620 Seiten

Laut eigener Angabe richtet sich das Buch an Studierende und Referendare gleichermaßen. Bedenkt man den Umfang von über 600 Seiten, so sind damit wohl eher sehr interessierte oder inhaltlich schon fortgeschrittene Studierende gemeint.

Dem Buch gelingt es außergewöhnlich gut einen vollständigen und weitestgehend gut strukturierten Überblick über das Strafverfahrensrecht zu vermitteln, der inhaltliche Tiefe, aber auch die nötige Präzision aufweist, um auf wirklich jede Klausurfrage oder -fall eine Antwort zu haben. In großer Tiefe und mit vielen Details wird jeder Regelungskomplex der StPO erklärt. Nicht selten blickt der Autor zudem über den Tellerrand und ordnet relevante Entwicklungen und Normen kriminalpolitisch ein. Dabei wird deutlich, dass der Autor zu den entschiedenen Verfechtern eines liberalen Rechtsstaats und starken Beschuldigtenrechten zählt, eine Position, die man in einem reinen Lehrbuch wohl nicht erwarten würde. Auch wenn es jedem Leser überlassen bleibt, ob ihn diese Ansichten interessieren oder wie er sie inhaltlich bewertet, sie zeigen das tiefe Verständnis des Autors für die Materie: Hier schreibt jemand, der nicht bloß Minimalwissen für Klausuren vermitteln will.
Wer sich wirklich inhaltlich vertieft für das Strafverfahren interessiert, der findet dadurch vielfach Denkanstöße, wer für Klausuren lernen möchte kann sicher sein, dass nichts, was in der Vorlesung besprochen wurde, in diesem Lehrbuch fehlt.

Bedenkt man, dass das Buch knapp über 600 Seiten Inhalt umfasst, fällt dabei doch spätestens nach dem zweiten Kapitel, das sich mit den Prozessgrundsätzen befasst, auf, dass es überhaupt keine Fallbeispiele gibt, besonders die Ausführungen zu den Zwangsmaßnahmen und den Beweisverboten schweben deshalb ziemlich in der Luft. Das lässt die qualitativ sehr guten und detaillierten Ausführungen mehrfach trockener wirken, als sie eigentlich sind. Zwar sind die kleiner gedruckten Vertiefungshinweise vollgepackt mit Rechtsprechungs- und Literaturempfehlungen, das führt aber nicht zu mehr Praxisbezug, im Gegenteil: Gerade jüngere Studierende könnten den Blick für das Wesentliche verlieren und überfordert werden.

Das Buch ist in eine Einleitung und insgesamt 15 Kapitel gegliedert, die thematisch jeweils weitestgehend inhaltlich abgeschlossen sind, sodass sie ohne Verweise auf frühere Kapitel auskommen.
Die ersten elf Kapitel behandeln zunächst eine Einleitung und die wesentlichen Prozessmaximen, danach behandeln die Kapitel die einzelnen Verfahrensabschnitte des Strafverfahrens in ihrer Reihenfolge, vom Ermittlungsverfahren bis hin zu den Rechtsmitteln und der Vollstreckung. Systematisch auffällig ist lediglich, dass das Kapitel zum Beweisrecht schon an fünfter Stelle steht, das über die Hauptverhandlung aber erst an achter Stelle, hier wäre eine engere Verknüpfung wünschenswert gewesen.
Die letzten Kapitel enthalten dann einen Überblick über besondere Verfahrensarten und einen rechtspolitischen Epilog, der einen Blick auf die Zukunft des Strafverfahrens eröffnet. Die einzelnen Kapitel sind in Unterabschnitte gegliedert, die einen sehr zielgerichteten Zugriff auf einzelne Themen und Probleme ermöglichen.
Insgesamt eignet sich diese Struktur sehr gut, um einzelne Vorlesungseinheiten thematisch gezielt nachzuarbeiten und zu vertiefen, dabei hilft auch das sehr genaue Inhaltsverzeichnis.
Stilistisch überzeugt das Werk durch seinen präzisen und klaren Stil, der wichtige Informationen nicht hinter langen Ausführungen verbirgt, was aber nicht heißen soll dass der Autor sich kurz fasst oder gar Themen weglässt. Störend hingegen wirken die stellenweisen sehr langen Verweise auf vertiefende Literatur und Urteile, diese hätten besser in die Fußnoten gepasst, um den eigentlich sehr angenehmen Lesefluss nicht zu stören.

Neben dem Fallbezug fehlt dem Buch stellenweise vor allem eine prägnante Schwerpunktsetzung und ein Gespür für die Bedürfnisse der Studierende. Zwar nehmen die praxis- und klausurrelevanten Themen die klare Mehrheit des Inhalts in Anspruch, jedoch werden auch im Studium wenig relevante Randthemen behandelt, was es erschwert, den Blick für das Wesentliche zu behalten, gerade wenn man sich das erste Mal mit dem Strafverfahrensrecht befasst.

Möchte man das Buch empfehlen, muss man differenzieren, gegenüber wem man die Empfehlung aussprechen möchte. Wer sich im vierten Semester auf seine StPO-Klausur vorbereiten möchte, der braucht wohl eher kein Buch ganz ohne Beispiele und mit hunderten Seiten von nicht examensrelevantem Wissen. Wer sich aber im Schwerpunkt vertieft mit dem Ablauf des Strafverfahrens in seinen Details befasst und bestenfalls sogar persönlich daran interessiert ist, dem kann der prägnante Stil und Roxins klarer Blick auf kriminalpolitische Entwicklungen sicher ein wertvoller Ratgeber sein. Dasselbe gilt sicher auch für (angehende) Referendare, für die die Tiefe und die Behandlung von Themen, die im Studium nicht behandelt werden, hilfreich sein können, um den strafprozessualen Blickwinkel über das zu erweitern, was im Studium unmittelbar erwartet wird.